31. Juli 2020

Habe ich meinem Kind die ADHS/ADS vielleicht vererbt?

Immer wieder erzählen mir Eltern, dass sie sich in ihrem Kind wiedererkennen: Sie suchen ihr Handy während sie telefonieren oder wissen nach dem Einkauf nicht mehr, wo sie das Auto vor dem Supermarkt geparkt haben. Wenn sie bei Tisch sitzen, wippt ein Bein oder sie zerlegen einen Füllhalter, während sie am Telefon sind. Und dann sind da ja auch noch diese nahezu unkontrollierbaren Emotionen und ja, manchmal auch Gefühlsausbrüche!  Fast so schlimm, wie beim Junior. Das kann doch kein Zufall sein …

Genau, ist es auch nicht, denn ADHS ist hochgradig vererbbar. Tausende Studien haben das in der Zwischenzeit belegt.

In diesem Blog möchte ich euch daher einige der am häufigsten gestellten Fragen zu diesem Thema beantworten:

  • Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern ihre ADHS/ADS an ihr Kind weitergeben?
  • Können die Symptome nicht eher von Mama oder Papa abgeguckt oder erlernt sein, d.h. die Gene hätten dann mit dem Verhalten meines Kindes ja gar nichts zu tun?
  • Soll ich mich diagnostizieren lassen? Aber dann hätten wir ja bei positiver Diagnose um einen ADHSler mehr in der Familie!

Diesmal habe ich aber nicht nur Fakten in meinen Blog gepackt, sondern habe einen Teil von Kapitel 2 aus „Schon wieder hat Max …“ für euch vorbereitet. So könnt ihr mal auf unterhaltsame Art und Weise etwas über ADHS erfahren.

Kurz noch für all jene, die das Buch nicht kennen:

Der Leser begleitet den 11jährige Max und seine Familie vom ersten Verdacht auf ADHS über die Diagnose bis hin zu den Überlegungen zu Therapien inklusive Medikation – all das ist verpackt in einem Roman. Denn Max hält all seine Emotionen und Gedanken in seinem Tagebuch fest. Ebenso sein genervter Bruder Smartie. Aber auch seine Mutter (Doris) und sein Vater (Harald) schreiben sich ihre liebe Not mit dem Energiebündel von der Seele. Außerdem teilen sie mit dem Leser ihr Wissen, das sie in ADHS-Büchern finden.

Der Auszug aus dem Buch beginnt aber nicht gleich mit Überlegungen zur Vererbung, sondern mit Mutter Doris‘ Verzweiflung wegen all dem Chaos, das Max beim Bau eines Limonadenstandes hinterlassen hat.

24. Juli, Mum

Heute hatte ich wieder eine heftige Diskussion mit Harald, weil Max bei seiner Limo-Stand-Aktion einiges an Schaden und Unordnung angerichtet hat und Harald ihn jetzt nicht mehr in seine Werkstatt lassen will. Offenbar hat Max den Schuppen in eine Müllhalde verwandelt. Ehrlich gesagt musste ich mich auch über ihn ärgern, denn ich fand massenweise verbogene Nägel in seinen Hosentaschen, als ich die Wäsche zum Waschen aussortierte. Die hätten mit Sicherheit die Waschmaschine ruiniert oder sie zumindest beschädigt, wodurch Harald wieder ein Ding mehr zu reparieren gehabt hätte.

Der war aber ohnehin schon sauer genug. Allerdings nicht nur wegen Unordnung und Materialschwund im Schuppen, sondern weil sich als Grund für das verstopfte Abflussrohr des Gartenwaschbeckens kübelweise aufgequollene Sägespäne herausstellten. Max hat die dort offenbar in der Hoffnung reingekippt, dass das Wasser sie wegschwemmt. Wozu den weiten Weg bis zur Biotonne auf der Straße draußen?

Ach Gott, es ist so schwierig. Ich verstehe ja Haralds Groll, denn ich weiß, wie ich mich fühle, wenn Max für ein Schulprojekt etwas bäckt oder – noch viel schlimmer – mit einem Freund einen „Zaubertrank“ braut oder ein Picknick für eine Übernachtung im Zelt mit Mike herrichtet. Die Küche sieht danach immer aus, als wären mehrere Lebensmittelbomben hochgegangen. Doch anders als Harald, der dann rumschreit oder seinen Frust bei mir ablädt, zitiere ich Max in die Küche und lasse ihn das Durcheinander beseitigen.

Ich gehe ihm zwar ein wenig zur Hand, denn sonst würde er niemals fertig, weil er mit dem ganzen Chaos hoffnungslos überfordert wäre. Aber es führt kein Weg daran vorbei, dass er seinen Arbeitsplatz – wenn auch auf Aufforderung und mit Hilfe – sauber zurücklassen muss.

Natürlich könnten wir uns viel Zeit und Energie sparen, wenn wir Schuppen und Küche für unter 18-Jährige für geschlossen erklären würden. Doch gerade für Max ist es unheimlich wichtig, ein Übungsterrain für Dinge zur Verfügung zu haben, die er im Leben einmal dringend brauchen wird. Wir wollen ihm Möglichkeiten bieten, sich zu beschäftigen und auszuprobieren, Alternativen zu Smartphone, Playstation & Co. zu haben, und ganz wichtig: ihm das Gefühl zu vermitteln, wir trauen auch ihm etwas zu.

Ja, ja, schon klar, das ist für alle Kinder und Jugendlichen wichtig, aber gerade Kinder wie Max brauchen das noch dringender. Denn ihnen begegnen so viele Misserfolge im Leben und sie brauchen unheimlich lange und viele Durchläufe mehr, manches zu lernen. Ich glaube heute manchmal noch, Max macht sich Knoten in seine Finger, wenn er eine Schleife binden soll. Außerdem bekommen sie aufgrund ihres Unvermögens auch viel öfter Kritik oder Abfälliges zu hören.

Deshalb muss man extra viele Möglichkeiten, aber auch Unterstützung, ermunternde Worte und authentisches (!) Lob anbieten. Soll heißen, nicht mit gekünstelt übertriebener Stimme loben und auch nichts, das eines Lobes eigentlich nicht wert ist. Diese Kinder durchschauen jedes Verstellen, Übertreiben und Geheuchle, auch wenn es positiv gemeint ist.

Wichtig ist allerdings auch, dass man ihnen nicht zu viel zumutet und sie eventuell in ihrer Euphorie auch mal bremst, denn gerade Kinder mit ADHS können sich oft schlecht einschätzen und der nächste Misserfolg ist vorprogrammiert – wieder ein Dämpfer für den Selbstwert.

Ich kenne es ja von mir selbst als Kind: Während meine ein Jahr jüngere Schwester vorbildlich mit Messer und Gabel essen konnte, mühte ich mich damit ab, überhaupt mal Essen auf die links gehaltene Gabel zu bekommen. Jeglicher Versuch, die Hand zu wechseln, wurde von meinem Vater unterbunden und wenn ich dann nach gefühlten drei Stunden endlich fertig war, erntete ich auch noch genervte Blicke oder bissige Kommentare wie „Noch ein paar Minuten länger und du hättest gleich mit dem Abendbrot weitermachen können.“

Noch heute treibt es mir fast die Tränen in die Augen, wenn ich mich an derartige Aussagen erinnere. Oder die Antwort meines Vaters, wenn meine Mutter vorschlug, ich solle ihm handwerklich zur Hand gehen: „Lass das lieber die Kleine machen.“ Und unausgesprochen stand im Raum „Denn Doris hat ohnehin zwei linke Hände“ oder „Dann klappt das eher.“
Jeder dieser Sätze grub sich tief in mein Gedächtnis ein, hinterließ Narben auf meiner Seele und nahm mir jegliches Zutrauen in meine vermutlich tatsächlich weniger stark ausgeprägten Fähigkeiten, meine Hände sinnvoll bzw. ohne Missgeschick zu benutzen.

Und noch heute gelte ich als die, die nur einen Stift halten oder in die PC-Tasten hauen kann, obwohl ich eine wirklich penible Hausfrau und gute Köchin bin, all unsere Vorhänge selbst genäht und auch die beiden Kinderzimmer gestrichen habe. Doch derartige Aussagen zementieren mit der Zeit die Vorurteile und formen dann irgendwann die Realität. Denn trotz geglückter Vorhänge und satt aussehender Wandfarben war ich richtig angespannt beim Arbeiten und immer wieder bohrten sich dabei ungebeten abwertende Aussagen aus meiner Kindheit in mein Bewusstsein.

Ich denke, die wenigsten Menschen wissen um die Wirkmacht ihrer Worte, aber gerade, weil ich da selbst auf viel Verletzendes zurückblicke, überlege ich mir bei Max und natürlich auch bei Smartie wirklich genau, wie ich etwas formuliere. Leider gelingt mir das nicht immer. Besonders wenn einer der beiden mich schon zur Weißglut getrieben hat (meistens natürlich Max), ist es extrem schwierig, meinem Ärger nicht mit dem Rausplärren einer herabwürdigenden Bemerkung Luft zu machen.

Ich hoffe, dass es da seitens der Psychologin irgendeine Empfehlung für ein Verhaltenstraining oder Ähnliches gibt, wo man lernt, solche Situationen besser in den Griff zu bekommen. Denn auch wenn mir das ja Gott sei Dank ohnehin nicht allzu oft passiert, wäre es schön, weniger nette Aussagen den Kindern gegenüber ganz vermeiden zu können.

Ich muss natürlich zugeben, dass ich mich auch deshalb im Umgang mit Max um vieles leichter tue, weil ich so viele Parallelen zu mir als Kind sehe. Was mich, nach all dem, was Harald und ich schon über ADHS gelesen haben, nicht verwundert, denn sehr oft wird es genetisch weitergegeben. Die Literatur ist voll von Studien zur Vererbbarkeit des Syndroms. Ein Autor spricht im Jahr 2010 von rund 1.800 Studien, die allein zur Genetik der ADHS bis dahin veröffentlicht worden sind.[1]

Die Ergebnisse sind dazu wirklich eindeutig und fast verblüffend: ADHS tritt tatsächlich familiär gehäuft auf.[2] Karin Schleider berichtet davon, dass sogar „in bis zu 95% der Fälle […] ADHS auf eine genetische Ursache zurückgeführt [wird]. Mindestens 45% der Eltern von Kindern mit ADHS haben ebenfalls ADHS. Das Risiko für ADHS für Geschwister ist drei- bis fünffach erhöht.“[3]

Irgendwelche Schlauberger, die die ADHS-Symptomatik dennoch am liebsten den erziehungsunfähigen Eltern in die Schuhe schieben würden, könnten jetzt natürlich sagen, dass „eine solche familiäre Häufung auch auf die Wirkung psychosozialer Faktoren hinweisen [könnte].“[4] Soll heißen, dass die Eltern oder Geschwister Vorbild für ADHS-Verhalten sind, was bedeuten würde, dass die ADHS-Symptomatik auch erlernt bzw. erworben sein könnte. Man hat aber Studien durchgeführt, "bei denen die biologischen und die Adoptiveltern von adoptierten ADHS-Kindern verglichen wurden. Hierbei zeigte sich, dass die biologischen Eltern eindeutig häufiger mit ADHS-Symptomen zu kämpfen hatten als die Adoptiveltern. Gleiches gilt bei Geschwistern: Die biologischen Geschwister von adoptierten ADHS-Kindern (auch wenn sie getrennt voneinander aufwachsen) sind häufiger betroffen als Adoptivgeschwister."[5]

Also nichts mit „abschauen“ oder „Symptome anerziehen“! Noch dazu hat man in der Zwischenzeit auch einige Gene isolieren können, „die das dopaminergene System und die entsprechenden Rezeptoren beeinflussen[6], welche man unter anderem als Gründe für den gestörten Dopaminhaushalt bei Menschen mit ADHS vermutet. Und auch einzelne Chromosomen lassen eine Verbindung zu ADHS vermuten.[7]

Interessant waren für mich auch die Zwillingsstudien. Gerade bei eineiigen Zwillingen ist die Chance, dass beide Kinder von ADHS betroffen sind, relativ hoch. Je nach Untersuchung liegt der Prozentsatz bei eineiigen Zwillingen bei 50 bis 100% Prozent, bei zweieiigen bei rund 35%.[8] Laut einer großen Studie, die die Ergebnisse von 20 verschiedenen Zwillingsstudien miteinander vergleicht, liegt die Vererbbarkeit insgesamt gesehen bei 76%.[9]

Au weia, mir reicht schon ein Max und dann gleich zwei davon … Hut ab vor diesen Müttern!

Insgesamt, so Schleider, „ist ADHS eine der am meisten von genetischen Faktoren beeinflussten psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters.“[10] Und dann soll das alles Erziehungssache sein?

Außerdem: So wie ich selbst erzogen worden bin, hätte ich ja nicht mal den Hauch eines ADHS-Symptoms zeigen dürfen. Bei uns daheim gab es keine Widerrede, kein Hinterfragen, kein Diskutieren. Wenn meine Mutter und vor allem mein Vater etwas sagten, war das zu machen, ganz egal, wie widersinnig oder ungerecht es uns vorkam. Und wenn etwas nicht so geklappt hat, wie es hätte sollen, gab es Strafen oder gleich eine Ohrfeige, die ja – laut Menschen wie der Dame mit den lila-grau schimmernden Haaren im Supermarkt – „noch niemandem geschadet hat“.

Dennoch: Weder meine Träumerei noch meine Vergesslichkeit noch sonst irgendetwas verbesserten sich dadurch. Nichts. Nicht mal um irgendwelche Werte im Promillebereich. Alle Strafen halfen nichts, ich konnte einfach nichts dagegen tun, dass ich ständig träumte, nicht mitdenken konnte und oft nichts um mich herum mitbekam.

Ich schätze mal, ich hatte ADS, die Variante ohne Hyperaktivität und Impulsivität. Es gibt ja drei verschiedene Subtypen von ADHS, wobei der häufigste der Mischtyp ist, der Symptome aus allen drei Symptomblöcken aufweist. Max musste natürlich genau bei dieser Variante „hier!“ schreien. Aber neben dieser Mischvariante gibt es auch noch den seltenen Typ, der nur hyperaktiv und impulsiv ist (Kevin, der Junge unserer Nachbarn?) und eben ADS, die reine Träumerchen-Variante,[11] die ich offenbar hatte.

Dabei habe ich mich als Kind wirklich bemüht zu „funktionieren“, denn ich wollte weder von meinen Eltern noch von den Lehrern ständig zur Schnecke gemacht werden. Und zum Thema „hat noch niemandem geschadet“ kann ich nur sagen: Mich verletzten nicht nur die Ohrfeigen der Menschen, die mich doch angeblich so lieb hatten, sondern fast noch mehr die abfälligen Bemerkungen, wie oft mir dieses oder jenes doch schon gesagt worden sei, und jetzt hätte ich es abermals vergessen.

Am liebsten wäre ich jedes Mal im Erdboden versunken, wenn ich wieder mal zu hören bekam, dass man mir xy schon zig Male erklärt habe, und trotzdem hätte ich es falsch gemacht. Und Strafen, die ich als absolut gemein empfand, weil ich mich für meine Handlungen einfach nicht verantwortlich fühlte und nun mal nicht anders konnte, kränkten mich ohne Ende. Wie dankbar wäre ich gewesen, wenn man diese Krankheit schon damals gekannt und ich eine Erklärung für mein ständiges Versagen bekommen hätte.

Ich war natürlich nicht die Einzige, denn es gab, als ich noch ein Kind war, schon Millionen von anderen AD(H)S-Betroffenen, nur wurde das Krankheitsbild eben nie diagnostiziert, da man es noch nicht kannte. In einem der Bücher habe ich dann eine Stelle gefunden, die mich an meine eigene Leidensgeschichte erinnert. Sie wurde von einer Mutter geschrieben, die erst erkannte, was mit ihr als Kind los war, als ihre Tochter die Diagnose ADS bekam. Cordula Neuhaus hat ihre Zeilen veröffentlicht:

"Als ich 2003 das erste Mal von ADHS las, wusste ich sofort, dass dies die Antwort auf meine unbeantworteten Fragen des selber Nichtverstehens und meiner langen Leidensgeschichte war. Ich saß vorm PC und weinte. Ich war erleichtert. Es gab einen Grund für all die Dinge. Für mein 'Komischsein' bzw. 'Anderssein', für meine Langsamkeit, meine Vergesslichkeit, meine Verträumtheit und für meine Unzulänglichkeiten. Ich war nicht dumm. Ich war kein Versager. Immer wieder Misserfolge, bei den Versuchen, das zu schaffen, was andere doch auch schaffen. Mir gelang es nicht oder nur mit wahnsinniger Kraftanstrengung. Und dabei spürte ich immer, dass ich eigentlich nicht dumm bin und irgendwie Potential in mir habe, welches ich nur meist irgendwie nicht greifen und nutzen kann. Erst dadurch, dass meine kleine Tochter ähnliche Probleme hatte wie ich, bin ich nachdenklich geworden und auf ADHS gestoßen."[12]

Die Frau spricht mir aus der Seele. Genauso geht es mir auch. Ich dachte immer, Max hat einfach nur meine Gene, weil er mir in vielen Dingen so ähnlich ist. Meine Gene hat er ja auch, aber es dürfte sich eben nicht nur um die „normale“ Vererbung von Persönlichkeitsmerkmalen handeln, sondern wir scheinen eben beide an derselben Krankheit zu leiden. Ich hoffe nur, Max gehört zu den rund 50 Prozent, bei denen sich die Symptome mit den Jahren „auswachsen“, soll heißen, dass er Strategien entwickelt, damit besser zurechtzukommen. Mir ist das Gott sei Dank geglückt.

25. Juli, Max

Gestern hab ich Mum und Dad irgendwas von Vererbung bei ADHS reden hören. Mum meinte, langsam werde ihr vieles klar, vermutlich habe nicht nur ich ADHS, sondern auch sie. Sie würde sich bei so vielen Dingen in mir wiedererkennen. So wie ich sei sie als Kind auch oft gewesen und die Bücher seien voll von Studien zur Vererbung von ADHS.

Was gibt’s da nachzulesen, bitte? Jeder Fünfjährige weiß, dass Kinder wie ihre Eltern aussehen und ticken. Nehmt mal Opa, Mum und mich: Opa ist derselbe Rühr-mich-nicht-An wie ich. Aber auch Mum ist super empfindlich. Lässt immer nur die coole Powerfrau raushängen. Doch ihr solltet sie mal bei einem traurigen Film oder so sehen. Manchmal reicht es sogar schon, wenn ihr jemand was Trauriges erzählt, und sie kriegt feuchte Augen, obwohl sie die Leute nicht mal kennt. Auch Opa hab ich schon ein paar Mal weinen gesehen – und das, obwohl er ein Mann ist.

Noch eine Ähnlichkeit zwischen uns dreien: Jeder von uns ist super ungeduldig. Opa kann nicht warten, genau wie Mum und ich. Außerdem explodiert er genauso leicht wie wir beide und je älter er wird, desto kürzer wird seine Zündschnur. Ja, Leute, ich könnte noch seitenweise über unsere Ähnlichkeiten schreiben, aber ich denke, ihr habt den Drift bekommen.

Insgesamt frag ich mich allerdings, wozu man so absolut unnötige Gene braucht, denn die beiden haben mir neben ein paar netten Eigenschaften auch einen Haufen unbrauchbares Zeugs vererbt, vor allem Mum. Von ihr hab ich nämlich einiges abbekommen, für das ich mit Sicherheit kein Dankesschreiben an den großen Chef da oben schicken werde: Das ständige Träumen (sie hat mir schon oft gesagt, dass sie die Hälfte ihrer Kindheit im selben Land wie ich verbracht hat: im Traumland).

Deshalb hat sie als Kind auch kaum was vom Leben mitbekommen, immer alles verloren und vergessen (wie hat sie nur die Schule überstanden?), hat ständig getrödelt (unglaublich, wenn man sich diese Speed-Maschine heute ansieht!) und war eben auch sehr, sehr nahe am Wasser gebaut.

Na ja, wie schon gesagt: Zum einen ist sie das immer noch und zum anderen ist das für ein Mädchen keine Schande. Aber fragt mich mal, was das jedes Mal für ein Kraftaufwand ist, die Tränen zu unterdrücken. Vor allem in der Klasse oder wenn meine Großtante da ist, die manchmal nur drauf zu warten scheint, dass mich irgendwas flasht und mir das Wasser in den Augen hochsteigt. Wer im Universum hat sich diesen Kack mit der Vererbung und diesen doofen Genen eigentlich ausgedacht?

Morgen geht es im Übrigen wieder ab zur Psychologin. Wahrscheinlich mehr Tests und weitere endlose Versuche, mir unter die Schädeldecke zu gucken. Fragt sich nur, wozu – außer einem riesigen Hohlraum wird sie dort nichts finden. [Ende Textauszug]

Lasst mich euch abschließend noch eines mitgeben: Wenn ihr den Verdacht habt, ihr könntet selbst auch ADHS haben, scheut euch nicht vor einer Diagnose. Denn wenn wir unseren Kindern erzählen, dass ADHS nicht das Ende der Welt ist und Betroffene im Vergleich zu Nicht-Betroffenen auch ganz viele Vorteile und positive Eigenschaften haben, dann können wir das unseren Kids auch damit zeigen, dass wir uns selbst diagnostizieren lassen.

Stellt euch mal vor, welche Entlastung es für ein Kind bedeuten kann, zu sehen: Okay, Papa hat auch ADHS und hat es im Leben geschafft. Dann ist mein Absturz nicht schon fix vorprogrammiert (denn viele unserer Kinder sind genau davon überzeugt). Und wie wohl es einem Kind tun kann, wenn es weiß, dass es nicht der oder die einzig Betroffene in der Familie ist und dieses Label nicht alleine tragen muss.

Genau das hat einmal ein Vater bei einem meiner Vorträge genau auf den Punkt gebracht: „Als ich meine Diagnose bekam, meinte unser Sohn: ‚Yo Mann, jetzt bin ich nicht mehr der Mülleimer der Familie.‘“

Welch wunderbares Geschenk ihm sein Vater mit dem Gang zum Diagnostiker gemacht hatte …

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