18. September 2020

Fallbeispiele – Medikamente in der Praxis (Teil 3)

Heute folgt das letzte Fallbeispiel einer Serie und zwar das für mich dramatischste - dramatisch von der Entwicklung des Kindes und vom Ablauf der Ereignisse her (die Rettung musste verständigt werden), aber auch dramatisch in Bezug auf die Wirkung der Medikamente.

Fallbeispiel 6: Daniel aus Augsburg, 13 Jahre

Familiäre Situation

Ich habe Daniels Eltern als sehr bemüht und unterstützend ihrem Kind gegenüber wahrgenommen. Die Mutter, eine Kindergartenpädagogin und Leiterin einer Selbsthilfegruppe für ADHS, ist sehr ruhig, gibt dem Jungen das Gefühl, dass er „richtig“ ist, wie er ist. Der Vater beschäftigt sich viel mit seinen Kindern (Daniel hat noch eine 1,5 Jahre ältere Schwester), hatte allerdings, als es noch keine Diagnose und auch keine Unterstützung gab, Schwierigkeiten im Umgang mit Daniels Auffälligkeiten.

Daniels Geschichte:

Kleinkindalter

Daniel war bereits im Kleinkindalter sehr lebhaft, aber wenn er entsprechende Möglichkeiten zum Ausleben seines Bewegungsdrangs hatte, „war er für uns noch händelbar“, erzählte mir die Mutter.

Doch bereits im Kindergarten begannen die Schwierigkeiten: Der Morgenkreis mit 45 Minuten war für ihn zu lange und er störte. Dafür musste er dann in einem extra Raum zur Strafe malen – was die Mutter leider erst ein Jahr später von einem anderen Kind aus der Kita erfuhr.

Ein Gespräch mit der Kita-Leitung führte zu nichts und so wechselte Daniel in einen privaten Kindergarten mit nur 12 Kindern, in dem es zwar auch Regeln gab, aber „sinnvolle“ und von solch jungen Kindern einhaltbare (Wer z.B. am Morgenkreis nicht teilnehmen wollte, der konnte sich still beschäftigen, durfte aber die anderen nicht stören).

Daniel ging es dort hervorragend, denn er konnte den ganzen Tag draußen sein. Die einzige Auffälligkeit war, dass er nicht malen wollte – was ja nicht verwunderlich war, da Malen in der Kita zuvor als Mittel zur Strafe eingesetzt worden war. Überhaupt war Daniel zu dem Zeitpunkt relativ „pflegeleicht“, so lange er im Freien war, im Haus jedoch wurde es mit ihm immer schwieriger: Er hatte Probleme, Regeln einzuhalten, konnte sich nichts merken, war immer schnell überfordert ...

Die ersten Rebellionen

Es wurden Möbel zertrümmert, die Ausraster wurden heftiger. Und damit hatte nicht nur Daniels Familie zu kämpfen, sondern auch der Junge selbst. Denn einmal hatte er bereits seinen Rucksack gepackt und wollte von daheim weglaufen. Die Mutter verfolgte aber immer die Strategie, alles mit ihm auszusitzen. Sie hat das bei unserem Interview folgendermaßen ausgedrückt:


„Wenn er zu Hause ausgetickt ist mit schreien, weinen, schlagen, bin ich bei ihm geblieben. Ich habe mich mit ihm in seinem Zimmer zurückgezogen und habe dort gewartet in absoluter Stille, bis er "fertig" war. Ich wollte ihn damals nicht alleine lassen. Danach wurde noch gute 30 Minuten gekuschelt und in Ruhe gesprochen. Ich konnte mein Kind in seiner Hilflosigkeit und seiner Ohnmächtigkeit nicht sich selbst überlassen, auch wenn er uns gerade beschimpft hatte oder auch manchmal etwas zu Bruch gegangen ist.“  D.h. die Mutter war einfach nur da mit ihrer ruhigen Präsenz und nach einiger Zeit war alles vorbei, Daniels Welt war wieder in Ordnung - so als ob nie etwas gewesen wäre - und er wollte kuscheln.


Schulbeginn - Grundschule

Als Daniel sechs war, wurde er aufgrund seines enormen Spieltriebs und seiner schwachen Feinmotorik von der Schule zurückgestellt. Er bekam dann einmal in der Woche im Kindergarten Unterstützung von einer Förderschullehrerin. Diese sah in Daniel großes Potenzial und die Mutter hatte sehr viele und gute Gespräche mit der Pädagogin, die sie auch in Bezug auf den Umgang mit Daniels Problemverhalten geschult hat und sie ermutigt hat, auf ihr Bauchgefühl zu achten.


Der Schuleintritt ein Jahr später war dann trotzdem, wie zu erwarten, der Beginn einer weiteren Bergabfahrt in Daniels Leben. Die Lehrerin mochte keine Jungs - und Daniel schon gar nicht. Denn der hatte Schwierigkeiten mit dem Schreiben, vergaß ständig seine Sachen, hatte immer Chaos um sich rum bzw. verursachte es.

Dann kam nach zwei Jahren eine neue, junge Lehrkraft, die Daniel ganz anders behandelte. Trotzdem weigerte sich der Junge immer öfter, am Unterricht teilzunehmen - vermutlich aufgrund all der Abwertung, die er in den ersten beiden Schuljahren erfahren hatte. Aber die Lehrkraft nahm dieses Verhalten nicht persönlich und konnte gut mit ihm und seinem Anderssein umgehen. Auch sah sie sein intellektuelles Potential, nur schaffte Daniel es einfach nicht, dieses umzusetzen.


Aber Daniels immer häufiger werdende Unterrichtsverweigerung war nicht das einzige Problem. Er wurde auch sozial immer auffälliger, vor allem in den Pausen und im Sportunterricht. Bald war das Kind auch durch die liebevolle und klare Lehrerin kaum mehr händelbar.


Vor allem fühlte der Junge sich auch ganz schnell kritisiert. Sagte die Lehrkraft, dass die Klasse still sein solle, bezog Daniel dies auf sich und war den restlichen Tag nicht mehr ansprechbar. So war er dann auch bald von den Schulkollegen komplett abgeschottet.

Der Wechsel in die Mittelschule

Auch durch den Wechsel in die Mittelschule ändert sich nichts, denn Daniel kam schnell in sein altes Fahrwasser. Es gab ständig Probleme mit den Lehrkräften, die Eltern mussten den Jungen bis zu dreimal pro Woche abholen.

Da die Situation immer unerträglicher wurde, forderten die Eltern im August 2019 Familienhilfe über das Jugendamt an. Ein Sozialpädagoge kam einmal pro Woche für drei Stunden. Seine Zusammenarbeit mit der Familie führte sofort zu einer Entlastung daheim. Aber dann war da ja auch noch die Schule.

Doch auch dort kam es im November zu einer Wende. Denn endlich erkannte ein Lehrer, was mit Daniel los war und sprach die Mutter auf seinen Verdacht auf ADHS an. Die Testungen bestätigten die Vermutung des Lehrers dann im März 2019.

Nun stand die Entscheidung in Bezug auf Medikamente an. Aber trotz der Angst vor Nebenwirkungen, gab es – nicht zuletzt auch aufgrund des langen Leidensweges und der Richtung, in die sich die Sache schulisch zubewegte – kein Überlegen mehr: Die Eltern entschieden sich für Tabletten.

Dass die Entscheidung keinen Tag zu früh kam, zeigte dann folgender Vorfall, der sich wenige Tage vor Medikamentenbeginn ereignete. Hier das Schulprotokoll, das ich mit Erlaubnis der Eltern wortwörtlich wiedergebe, in dem ich dennoch Daten so anonymisiert habe, dass Daniels Identität geschützt bleibt:

Daniel Bergheimer, 5a, Vorfall am 29.3.2019 gegen 14.15 Uhr

Am Donnerstag den 29.3.2019 ereignete sich, bevor die Schüler zu den AGs gingen, gegen 14.15 Uhr ein Vorfall zwischen Daniel Bergheimer und einer vorbeikommenden Lehrerin. Zu der Zeit waren die Schüler kurz ohne Aufsicht.

Daniel stand vor seiner Klassenzimmertür und hielt diese zu, so dass zwei Schüler, die noch in der Klasse waren, nicht nach draußen konnten. Frau Weinheimer, die Lehrerin, die gerade vorbeikam und dies merkte, sagte zu Daniel, er solle zur Seite gehen, um die anderen Kinder rauszulassen. Daniel verweigerte dies.

Also fragte Frau Weinheimer Daniel nach seinem Namen, den der Junge ihr aber nicht sagen wollte. Ein anderer Schüler nannte Frau Weinheimer den Namen, woraufhin die Lehrkraft Daniel zum Mitkommen aufforderte. Als der Junge auch dies verweigerte, schickte Frau Weinheimer eine andere Schülerin los, um Frau Wodinjak, die Direktorin, zu holen. 

Ebenso ging Frau Weinheimer auf den Sozialpädagogen, Herrn Bammer, zu und fragte, ob er den Schüler kenne und teilte ihm mit, dass es ein Problem mit ihm gäbe. Als Herr Bammer bei Daniel ankam, saß dieser auf dem Boden vor dem Klassenzimmer und war wie versteinert.

Er versuchte zuerst allein mit ihm zusprechen. Es war gerade noch aus ihm rauszubekommen, dass der Tag für ihn nicht gut war (zweimal Ärger mit Lehrern, Sportsachen vergessen, weshalb er im Sport nicht mitmachen konnte, jetzt nochmals Ärger mit einer Lehrerin) und dass er zu keinem Kompromiss bereit sei. 

Anschließend versuchte Frau Wodinjak, Daniel von einer Zusammenarbeit und der Lösung des Problems ohne Strafe zu überzeugen. Daniel lief daraufhin in den Keller und begann gegen Gegenstände zu treten und zu schreien. Herr Bammer und Frau Wodinjak einigten sich darauf, Daniel abholen zu lassen.

Die Großmutter, die als erste erreichbar war, wurde verständigt und machte sich sofort auf den Weg. In der Zwischenzeit versuchte Daniel mehrmals wegzulaufen. Zunächst lief er in die Aula, wo er sich auf die Treppe setzte. Versuche von Frau Wodinjak, mit ihm ins Gespräch zu kommen, scheiterten. Anschließend lief er weiter zur Garderobe seines Klassenzimmers, wo er sich auf den Boden setzte und die Straßenschuhe anzog.

Nach Ankunft der Großmutter versuchte diese ihn zum Nachhause Fahren zu bewegen. Unterstützt vom Hausmeister Herrn Illich und Frau Wodinjak blieb aber auch dies erfolglos. Daniel blieb unbewegt auf dem Gang sitzen, beschimpfte die Großmutter und die anderen Beteiligten und schrie, dass er mit dem Bus nach Hause fahren werde.

Daraufhin wurde der Rettungswagen alarmiert und der Vater verständigt. Auch die Versuche der angekommenen Sanitäter blieben erfolglos. Daniel blieb weiterhin auf dem Boden im Gang sitzen und sagte, er werde mit dem Bus nach Hause fahren.

Auf die Erklärung, dass wir ihn in diesem Zustand nicht alleine mit dem Bus nach Hause fahren lassen können, begann er wieder zu schreien.

Als der Vater ankam, versuchte dieser Daniel verständnisvoll zum Mitkommen zu bewegen. Nach Rücksprache mit dem Vater übergaben die Sanitäter Daniel an diesen und verließen das Schulgebäude. 

Aber auch die Versuche des Vaters blieben erfolglos. Daniel schrie seinen Vater an, beschimpfte ihn und versuchte, auf ihn einzuschlagen. Zum Unterrichtsende kamen Daniels Mitschüler vom Sportunterricht zurück, um ihre Schulsachen zu holen. Daniel saß weiterhin am Boden und beschimpfte seinen Vater.

Als ihn der Vater dann mitzuziehen versuchte, eskalierte die Situation. Daniel schlug auf ihn ein und schrie lauthals. Daraufhin gelang es dem Vater gemeinsam mit Herrn Illich, Daniel in das Hausmeister-Zimmer zu ziehen, um ihn vor den Blicken der Mitschüler zu schützen. 

Dort spitzte sich die Situation weiter zu. Daniel trat gegen die Tür, schlug gegen die Fenster, schrie und beschimpfte die Anwesenden. Der Vater und Herr Illich versuchten ihn festzuhalten und zu beruhigen, dabei wehrte er sich sehr heftig. 

Daraufhin wurde ein zweites Mal der Notruf gewählt. Die Sanitäter kamen erneut und riefen nach Rücksprache mit dem Krankenhaus den diensthabenden Notarzt. Auch dieser versuchte beruhigend auf Daniel einzuwirken.

Daniel zeigte sich aber auch ihm gegenüber unzugänglich. Gemeinsam mit einem Sanitäter versuchte der Notarzt, Hilfe von der Waldheimer-Klinik in Augsburg zu erhalten. Der Junge kauerte sich währenddessen in eine Ecke des Zimmers, weinte und reagierte nicht auf die Ansprache des Arztes. 

Mit zunehmender Erschöpfung wurde Daniel ruhiger. Nach Ankunft der Mutter um 16:15 zeigte sich der Junge erleichtert und öffnete sich wieder. Gegen 17 Uhr verließ Daniel erschöpft das Zimmer des Hausmeisters und schaute sich gemeinsam mit dem Notarzt den Rettungswagen an. Daniel bekam dann noch einen Teddybären geschenkt und ging mit seinen Eltern nach Hause.“

Eine unglaubliche Geschichte – vor allem unglaublich traurig für Daniel, der einmal mehr erfahren musste, dass er wieder einmal „versagt“ hatte, dass er es wieder nicht geschafft hatte, sich aus seiner Abwärtsspirale des Widerstandes zu befreien.

Daniel war seinen Emotionen offenbar ausgeliefert gewesen und konnte sich erst öffnen als (a) er zu müde für weiteren Widerstand geworden war und (b) seine Mutter – sein sicherer Hafen – bei ihm war.

Dass sich Daniels Eltern nach all dem Erlebten und der starken Veränderung ihres Jungen im Laufe der Jahre nun für Tabletten entschieden, ist nachvollziehbar und m.E. die einzig richtige Entscheidung gewesen. Denn wo die Reise sonst ohne medikamentöse Unterstützung hingegangen wäre, war unschwer zu erkennen.

Wichtiges Detail am Rande: Daniels Mutter hatte derartigen Respekt vor der Medikation, dass sie die Tabletten sehr langsam „einschlich“ und sich einige Monate zum kleinschrittweisen Ermitteln der richtigen Dosis Zeit mit Daniel nahm.

Und wie geht es Daniel heute?

Heute, eineinhalb Jahre später, ist Daniel ein fröhlicher Junge, der in der Schule sehr gut zurechtkommt und am Unterricht konzentriert teilnehmen kann. Nach dem Nachhause-Kommen erledigt er ohne Aufforderung seine Hausaufgaben.

Auch strukturiert er sich im Alltag immer mehr und setzt sich selbst fixe Zeitpunkte zum Erledigen von Alltagsaufgaben, an die er sich auch hält. Zum Einhalten von Zeiten bzw. als Erinnerungshilfe stellt der Junge sich am Handy immer wieder Wecker ein.

In der Schule arbeitet Daniel gut mit, die Schulnoten sind von Vieren und Fünfen auf Einsen, Zweien und Dreien gegangen. Mittlerweile hat er auch auf den Realschulzweig gewechselt.

Außerdem kennt er die Regeln und Strukturen daheim, er weiß, was seine Aufgaben im Haus sind und erledigt diese auch ohne Murren. Auch kann man ihm nun mehrere Aufträge gleichzeitig geben, ohne dass er ausflippt oder alle wieder vergisst. Selbst Aufträge für den oder die nächsten Tage erledigt er, ohne daran erinnert werden zu müssen.

Im Sozialen hat er ebenfalls mächtig angeschoben. Er kann gut an Gesprächen teilnehmen, anstatt diese zu stören und bringt bei Diskussionen gute Einwände und Argumente vor.

Wenn die Emotionen mal hochkochen, wird Daniel weit weniger ausfallend, es kommt zu keinen kompletten Aussetzern wie früher. Handgreiflichkeiten oder Türen Zuschlagen sowie gegen Gegenstände Treten gehören der Vergangenheit an. Auch er ist nach Auseinandersetzungen oder Meinungsverschiedenheiten sofort wieder zugänglich. Und: Daniel kann wieder viel mehr lachen.

Alles in allem ist Daniel nun ein glücklicher Junge und Familie Bergheimer um ein Vielfaches entspannter als noch vor 18 Monaten.

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