Vor etwa elf Jahren: Eine Geschichte aus dem Leben einer ADHS-Familie zur Einleitung ...
Rums! Plötzlich liegen Schnitzel und Pommes unseres Juniors am Boden. Das ganze Restaurant hält inne und alle, wirklich alle starren in unsere Richtung.
„Sorry Mama, das wollte ich nicht!“, sagt unser Achtjähriger mit feuerrotem Gesicht und kaum hörbarer Stimme. Offenbar aber doch laut genug für die Dame mit dem versteinerten Gesichtsausdruck am Nebentisch, die uns schon die ganze Zeit kritische Blicke zugeworfen hatte.
„Den Teller hätte er gar nicht vom Tisch gefegt, wenn er endlich mal still gesessen hätte!“ spuckt sie giftig herüber. „Als ich jung war, mussten wir wie die Zinnsoldaten bei Tisch sitzen und durften nur reden, wenn wir gefragt wurden. Aber mit diesen neumodernen Erziehungsmethoden heute …“
Genau solche Aussagen machen Raphael zu schaffen und untergraben seinen ohnehin schon angeschlagenen Selbstwert. Also husche ich zum Tisch der Dame hinüber.
„Unser Junior hat ADHS, wissen Sie“, flüstere ich, um unserem Sohn nicht noch mehr Schmach zu bereiten. „Er kann seinen Bewegungsdrang nicht kontrollieren. Es ist, als würde ihn ein innerer Motor ständig antreiben …“
„Ach Gott, bleiben Sie mir doch mit ADHS und diesen ganzen Modediagnosen vom Leib. Das ist alles nur Erziehungssache. Erst letzte Woche habe ich dazu eine Dokumentation im Fernsehen gesehen, in der zweifelsfrei erklärt wurde, dass die Zappelphilippe gar nicht so viel zappeln würden, wenn die Eltern da mehr dahinter wären. Und sie wüssten sich auch zu benehmen …“
Kommt euch bekannt vor? Habt ihr so oder ähnlich schon erlebt? Nun, ich denke jeder, der ein Kind mit ADHS hat, kennt solche Aussagen zur Genüge.
Aber stimmen sie? Was ist dran an diesen Vorwürfen uns Eltern gegenüber? Oder besser:
Wodurch wird ADHS wirklich verursacht?
Genau dieser Frage wollen wir uns heute widmen.
Wenn ihr diesen Blog gelesen habt,
Zuerst aber mal die nicht 100%ig befriedigende Antwort aus der Wissenschaft: Die Forschung konnte die Ursachen von ADHS bisher nicht gänzlich klären[1].
Allerdings weisen mehrere tausend Studien doch sehr eindeutig darauf hin,
Werfen wir zuerst mal einen Blick drauf, was denn im Gehirn von Kindern mit ADHS anders ist als in dem von Nicht-Betroffenen. Um das einigermaßen seriös zu tun, müsst ihr mir verzeihen, wenn im heutigen Blog doch einige wissenschaftliche Ausdrücke drin sind, die ich sonst zu vermeiden versuche.
Damit der Beitrag aber trotzdem für jedermann halbwegs konsumierbar bleibt, habe ich wichtige Stellen aus der Literatur in grauer Schrift gehalten und dann nochmal in leichter verständlichem Deutsch zusammengefasst. Für die, die die schwere Kost also lieber vermeiden wollen: Einfach die grauen Teile überspringen
Strukturelle Auffälligkeiten im Gehirn von Kindern mit ADHS
Studien zeigen, „dass die ADHS auf einer hirnorganischen Mangelfunktion des kortikalen-strialen Netzwerkes und auf einer dysfunktionalen Informationsverarbeitung zwischen Frontalhirn und Basalganglien beruht. [Außerdem] spielt auch die Hemmung von Impulsen und deren Auswirkung auf das Arbeitsgedächtnis eine entscheidende Rolle“[3].
Darüber hinaus hat man auch eine verzögerte Hirnentwicklung vor allem im Frontalhirn, Vernetzungsprobleme langer Bahnen sowie Mikrostrukturanomalien festgestellt. „Funktionelle Defizite betreffen Aktivierung und Konnektivität in diesen Arealen.“[4]
Im Klartext heißt das, dass das Gehirn von Kindern mit ADHS teilweise nicht so funktioniert, wie es funktionieren sollte und dass die Verarbeitung von Information zwischen verschiedenen Bereichen im Gehirn nicht so abläuft, wie das bei normal arbeitenden Gehirnen der Fall ist. Auch können Impulse nur schwer kontrolliert werden, was wiederum die Funktion des Arbeitsgedächtnisses beeinträchtigt.
Weiters haben Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren gezeigt, dass das „vordere Aufmerksamkeitssystem im Stirnhirn und in einem Bereich, der wie eine Art ‚Gangschaltung‘ für die Aufmerksamkeit funktioniert“ nicht ausreichend durchblutet ist.[5]
Andererseits „besteht aber eine vermehrte Durchblutung in den sensomotorischen Rindenfeldern, d. h., dass ein solches Kind quasi wie ein zu hoch drehender Motor zu schnell ‚überschießt‘, wenn es auf etwas reagiert, [und seine] Kraft schlecht regulieren kann.“[6].
Durch die schlechte Durchblutung in dem einen Gehirnbereich leidet also die Aufmerksamkeit, während die zu starke Durchblutung in dem anderen Bereich für die Hyperaktivität und die schlecht dosierte Kraft verantwortlich ist.
Schließlich belegen neurochemische Studien, dass bei ADHS die Regulation von zwei Botenstoffsystemen nicht richtig funktioniert – und zwar dem von Noradrenalin und von Dopamin. Dabei sind „dopaminerge Neurone […] wesentlich für Motivation, Lernen, Aufrechterhalten zielorientierten Verhaltens und beim Kurzzeitgedächtnis, noradrenalinerge Neurone für Aktivierung und Steuerung der Aufmerksamkeit verantwortlich.“[7]
In diesem Zusammenhang haben einige von euch wahrscheinlich schon von der sogenannten
Dopaminmangel-Hypothese
gehört. Sie ist zwar in Fachkreisen nach wie vor umstrittenen und noch nicht hinlänglich geklärt, liefert aber ein sehr plausibles Erklärungsmodell für die Wirkweise von Methylphenidat – der bei ADHS am häufigsten eingesetzten Substanz.
Und was besagt diese Hypothese? Vorerst lässt der Ausdruck „Dopaminmangel-Hypothese“ ja vermuten, dass Kinder mit ADHS zu wenig dieses Botenstoffs haben, der im Gehirn für die Informationsübertragung von einer Synapse zur nächsten zuständig ist. Vielmehr ist es aber so, dass es eine erhöhte Dichte an Dopamin-Transportern in bestimmten Strukturen des Gehirns gibt, wodurch aus dem synaptischen Spalt Dopamin abtransportiert wird, sodass in diesen Bereichen entsprechend weniger Signalübertragung stattfindet. In der Folge verringert sich die Aktivität in den entsprechenden Zentren.[8a]
Platt ausgedrückt könnte man sagen, dass der gesamte Denkprozess unheimlich erschwert wird, weil die Informationen ohne genügend Träger-Seilbahnen die Schluchten nur langsam oder gar nicht überwinden können. Medikamente sorgen unter anderem dafür, dass die Dopamin-Konzentration im synaptischen Spalt erhöht wird.[8b]
Insgesamt zeigen sämtliche Studienergebnisse, „dass es bei ADHS tatsächlich zu messbaren Funktionsstörungen im Gehirn kommt, die eine Erklärung für das unkonzentrierte, unkontrollierte und 'gedankenlose' Verhalten der Kinder liefern."[9] Das Pech, das unsere Kinder haben, ist nur, dass man ihnen all diese Dinge von außen nicht ansieht.
Sind Kinder mit ADHS also weniger intelligent?
Da kann ich euch gleich mal Entwarnung geben. Bei Menschen mit ADHS sind spezielle Regionen wie das Kleinhirn und das Stirnhirn zwar bis zu 12% kleiner.[10] Dennoch hat man festgestellt, dass sich Menschen mit ADHS in ihrer Intelligenz von Menschen ohne ADHS nicht wirklich unterscheiden.
Ja, ich weiß, im Blog von letzter Woche, in dem es um die positiven Eigenschaften von Kindern mit ADHS ging, haben wir gehört, dass es sehr wohl einige Studienergebnisse gibt, nach denen ADHSler bei Intelligenztests doch ein wenig und teilweise sogar erheblich schlechter abschneiden als Menschen ohne dieses Syndrom. Aber diese (etwas) geringeren Leistungen bei derartigen Tests werden unter anderem damit erklärt, dass möglicherweise gewisse Fähigkeitspotenziale aufgrund der geringeren Aufmerksamkeits- und Konzentrationsspanne nicht vollständig ausgeschöpft werden können bzw. die unzureichende Nutzung des Arbeitsgedächtnisses zu Problemen bei der Informationsspeicherung führt.[11]
Was man allerdings in Untersuchungen im Computer- oder Kernspintomografen festgestellt hat, ist, dass das Gehirn von Menschen mit ADHS beim Lösen von Testaufgaben andere Netzwerke von Gehirnregionen benutzt. Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass das Gehirn zu anderen Ergebnissen kommt. Der Weg dorthin erfordert jedoch mehr Energie.[12]
Gerade für die Schule ist das wichtig, denn das wäre – abesehen von der mangelnden Konzentrationsfähigkeit – eine weitere Erklärung dafür, warum Kinder mit ADHS im Unterricht nach wenigen Minuten ins Traumland abdriften und für Hausaufgaben und Lernen kaum zu motivieren sind.
Meine persönliche Erfahrung in 15 Jahren intensiver Auseinandersetzung mit ADHS ist, dass ich fast alle Kinder mit ADHS – trotz schulischer Leistungsprobleme – von ihrem Intellekt her als unauffällig wahrgenommen habe. Was mir aber tatsächlich immer und immer wieder auffällt, ist, dass viele betroffene Kinder einen messerscharfen Verstand und ausgezeichnete Analysefähigkeiten haben.
Wenn jemand beispielsweise über einen komplexen Vorgang berichtet oder ein Argument bringt, das vordergründig plausibel erscheint, bei genauerer Betrachtung aber widerlegt werden kann, durchschauen viele Kinder mit ADHS diese Dinge im Bruchteil einer Sekunde. Und nicht nur, dass sie offenbar blitzschnell mehrere Parameter geistig miteinander abzugleichen imstande sind, können sie das Ergebnis mit einem Satz genau auf den Punkt bringen und ihr Gegenüber in Null komma nichts „entwaffnen.“
Vor allem in Diskussionen, in denen sie anderer Meinung sind, gelingt ihnen das überaus gut.
Und was ist mit den Umweltfaktoren?
Vieles deutet darauf hin, dass auch umweltbedingte Risikofaktoren bei der Entstehung von ADHS eine Rolle spielen. Die wichtigsten davon sind:
Und dann ist da ja auch noch die Vererbung
Denn wie wir im Blog zu diesem Thema gehört haben, wird ADHS in hohem Grad vererbt. Eltern, die selbst von ADHS betroffen sind, haben eine mehr als 50%ige Chance, ein Kind mit ADHS zu bekommen.[13b] Mehr dazu könnt ihr hier nachlesen.
Fassen wir zusammen
Alles in Allem geht man also in der Forschung von einem sogenannten „multifaktoriellen Geschehen“ aus.[14] Das heißt, es gibt keinen alleinigen Verursacher, sondern mehrere Faktoren spielen eine Rolle und bedingen sich gegenseitig.[15] Insgesamt weisen die Studienergebnisse allerdings den neuro-biologischen Ursachen die größte Rolle zu, d.h. dass die Hauptursachen der ADHS in Veränderungen der Funktionsweise des Gehirns zu suchen sind.[16]
Was sag ich nun Außenstehenden zu den Ursachen von ADHS?
Nun: Wie dieser Beitrag gezeigt hat, ist ADHS nach derzeitigem Forschungsstand vorwiegend auf (vererbte) biologische Ursachen und nicht auf falsche oder mangelnde Erziehung zurückzuführen. Allerdings – und das ist mir wichtig zu betonen – hat die Forschung ebenfalls gezeigt, dass sich bei Kindern, die nicht liebevoll, aber mit klaren Grenzen und Strukturen begleitet werden, die Symptome deutlich verstärken.
Das ist das, was ihr für euch selbst mitnehmen sollt.
Dem kritischen Umfeld könnt ihr folgendes sagen:
Und dann könnt ihr dem kritischen Gegenüber noch folgendes anbieten:
Wer dann noch immer diskutieren will, dem sagt ihr, dass ihr dringend zu einem Termin müsst oder was am Herd stehen habt ...
Vielen Dank für diesen Blog. Sehr sehr hilfreich und erklärt ADHS wirklich gut.
Danke, Karin, es freut mich wirkich sehr, dass du dir daraus offenbar etwas mitnehmen konntest 🙂