Ursprünglich wollte ich euch heute ja weitere drei Fallbeispiele aus dem Leben von Familien mit ADHS präsentieren. Doch dann stellte sich eine der Geschichten im vertiefenden Gespräch mit der Mutter als so aufregend, aber auch umfangreich heraus, dass ich beschloss, es heute bei Fall 4 und 5 zu belassen und euch nächste Woche diese außergewöhnliche Geschichte gesondert zu erzählen.
Warum überhaupt Fallbeispiele? Nun, weil ich euch mit realen Fällen aus der Praxis zu zeigen möchte, wie extrem unterschiedlich jedes Kind auf Medikamente reagiert.
Und wie schon im letzten Blog erwähnt: Ich möchte nochmal betonen, dass es mir wichtig war, sechs Familien zu wählen, in denen sich sehr ähnliche familiäre Voraussetzungen finden. Auch habe ich bewusst Mütter aus pädagogisch orientierten Berufen gewählt, um zu zeigen, dass selbst Mamas mit beruflichen Vorkenntnissen in diese Richtung mit ihrem Kind mit ADHS zu kämpfen haben.
Bitte lest aber trotzdem weiter, auch wenn euere Situation eine ganz andere ist, denn das, was nun folgt, soll zeigen, (a) dass ihr euch als (Pflege)Eltern/(alleinerziehende) Mama oder Papa, Oma/Opa … nicht steinigen sollt, wenn es ohne Medikamente einfach nicht (mehr) geht und dass (b) kein Kind wie das andere ist.
Außerdem möchte ich noch betonen, dass ich alle sechs Kinder und deren Familien persönlich kenne.
Um eure Erinnerung aufzufrischen bzw. für diejenigen von euch, die den Blog von vergangener Woche nicht kennen: Wir haben gehört von:
Heute hören wir von diesen beiden Fällen:
Fallbeispiel 4: Alexander, aus Bielefeld, 9 Jahre
Familiäre Situation
Alexanders Mutter ist Erzieherin. Ich habe sie als sehr ruhige, konsequente, „liebevoll beharrliche“ Mama kennengelernt, die alles an Therapiemöglichkeiten für ihr Kind ausschöpft, was möglich bzw. für Alexander unterstützend ist.
Alexanders Stiefvater ist der Inbegriff des liebenden Vaters: Immer für „sein“ Kind da, aufmerksam für Alexanders Bedürfnisse und immer für eine Balgerei oder eine gemeinsame Unternehmung gut.
Alexanders Geschichte
Ich habe Alexander als extrem lebhaftes, ja eigentlich aufgekratztes Kind kennen gelernt, dessen spontaner Wechseln zwischen einzelnen Tätigkeiten und Äußerungen mich an die schnellen Richtungswechsel einer Gazelle erinnerte, die versucht, einem Geparden zu entkommen.
Seine Sprechgeschwindigkeit konnte ebenfalls seinesgleichen suchen und auch hier wurde ich wieder an die Gazelle und den Geparden erinnert, denn ein Wort schien das nächste zu jagen.
In seiner Getriebenheit merkte Alexander meist gar nicht, wenn er angesprochen wurde, selbst wenn die Stimme desjenigen, der ihn zu erreichen versuchte, schon deutlich über Zimmerlautstärke lag.
Aber gehen wir mal zurück zu den Anfängen von Alexanders Geschichte:
Bereits nach seiner Geburt zeigte Alexander durchgehend Zeichen von Anspannung: Seine Fäustchen waren immer geballt, sein kleiner Körper stand ständig unter Strom, Alexander schrie den ganzen Tag und auch die halbe Nacht.
Nachdem den Eltern klar wurde, dass es sich nicht um die häufig üblichen Drei-Monats-Koliken handelte, ließen sie Alexander mit knapp einem Jahr in einem kinderneurologischen Zentrum untersuchen - mit keinem greifbaren Ergebnis.
Niemand wusste, was mit dem Jungen los war und so war bereits im Kindergarten im Alter von zwei Jahren ein Integrationshelfer notwendig, der Alexander den ganzen Tag zur Seite stand.
Dennoch klappte es in dieser Kita nicht und Alexander wechselte in einen Integrationskindergarten mit sonderpädagogisch geschultem Personal, wo er auch mit Ergotherapie, der Marte Meo Methode und anderen heilpädagogischen Interventionen unterstützt wurde.
Bei der Vorschuluntersuchung stellte sich dann heraus, dass Alexander sich auf nichts konzentrieren konnte, wobei eine richtige Testung gar nicht möglich war, da der Junge die Amtsärztin ständig in Gespräche verwickelte und nicht zu reden aufhörte. Endergebnis: Alexander sei so nicht beschulbar.
Es erfolgte eine stationäre Aufnahme in einer Klinik mit der finalen Diagnose „hochgradige ADHS“.
Aufgrund von Alexanders langer Leidensgeschichte fiel die Entscheidung nach Diagnosestellung sofort auf Medikamente im Therapiemix.
„Wieso Leidensgeschichte? Du hast ja bisher gar nicht erwähnt, dass er unglücklich war.“
Nun ja, Alexander litt natürlich sehr wohl unter seinem Anderssein, unter den vielen Missverständnissen zwischen ihm und Gleichaltrigen, unter seiner Leistungsschwäche aufgrund der Konzentrationsschwäche auch bei Alltagsaufgaben und er erfuhr auch ständig Abwertung wegen seiner Fahrigkeit und Sprunghaftigkeit.
Deshalb entschied sich die Mutter für einen Medikationsversuch, obwohl sie skeptisch gegenüber den Tabletten war bzw. Angst vor den Nebenwirkungen hatte.
Im Fall von Alexander war es ein sogenannter Blindversuch. Dabei wird den Eltern eine Packung mit Tabletten gegeben und nur der Arzt weiß, an welchem Tag eine Tablette mit Wirkstoff im Blister ist und an welchem Tag sich nur ein Placebo darin befindet. Die Erziehungsberechtigten notieren jeden Tag das Verhalten des Kindes und anschließend wird vom Arzt aufgrund der Aufzeichnungen gemeinsam mit den Eltern festgestellt, ob bzw. wie die Medikamente gewirkt haben.
Die Aufzeichnungen waren eindeutig:
An den Tagen, an denen Alexander Medikamente bekommen hatte, war es, als hätte man einen Schalter bei ihm umgelegt. Er war immer noch lebhafter, unkonzentrierter, sprunghafter und impulsiver als das Durchschnittskind, aber es war kein Vergleich zum Zustand ohne Medikamente.
Alexander war bei Weitem nicht mehr so fahrig und konfus und bemerkte nun auch, wenn man mit ihm sprach. Insgesamt hatten die Eltern nun wesentlich mehr Zugang zu ihm, denn er war nicht mehr gefangen in seiner kleinen Chaoswelt. Eine Welt, in der es nur summte und blitzte, wo er so sehr von allem übermannt war, dass er sich überhaupt nicht steuern konnte und auch von Außen kaum etwas mitbekam.
Doch obwohl die Medikamente die erwünschte und erhoffte Verbesserung brachten, gab es ein weiteres Problem: Alexander verstoffwechselte die Tabletten bei Weitem schneller als das Durchschnittskind mit ADHS und brauchte entsprechend hohe Dosen.
Zu Medikationsbeginn litt Alexander daher unter starker Appetitlosigkeit, die sich jedoch nach einiger Zeit auf ein wirklich erträgliches Maß einpendelte.
Hier noch drei Beispiele aus Alexanders Leben mit und ohne Medikament:
Schließlich ist auch Schulisches mit Medikation wesentlich leichter zu bewerkstelligen: Die Konzentration im Unterricht reicht aus, um den Schulalltag hinzubekommen, die Hausaufgaben Situation verläuft mit Abstand ruhiger und auch das Schriftbild ist besser (Alexander machte im Übrigen auch zwei Jahre lang ein Konzentrationstraining in Form einer ADHS-Kleingruppentherapie).
Teilweise lassen die Eltern am Wochenende die Nachmittags-Medikamentengabe aus. Außer sie gehen zum Beispiel auf einen Rummel, wo Alexander sich ohne Medikamente einfach nicht sortiert bekommen und von einer Attraktion zur anderen laufen würde, es laut werden und ihn alle Eindrücke und Emotionen dort einfach überfordern würden.
Alexander kann das zwar noch nicht verbalisieren, doch seine Eltern sehen ihm an, dass er in solchen Situationen vollkommen neben sich steht und von allen Eindrücken übermannt wird. Die Medikamente helfen ihm, hier eine kleine Schutzmauer zu errichten und zu mehr innerer Struktur zu finden.
Neben all den genannten Therapien bekommt Alexander im Übrigen auch noch Verhaltens-Einzeltherapie.
Fallbeispiel 5: Paul aus München, 20.5 Jahre
Familiäre Situation
Pauls Mutter ist Gymnasiallehrerin. Neben ihrer beruflichen pädagogischen Erfahrung hatte sie immer einen extrem starken Draht zu ihrem Jungen, spürte genau, was er brauchte und war in punkto Regeln, Grenzen und Konsequenz eine Bilderbuchmama. Allerdings wurde auch ganz viel gespielt und gekuschelt und vor allem auch auf sinnvolle Beschäftigung statt Medienkonsum geachtet.
Pauls Vater hat mit seinen beiden Söhnen (Paul hat einen knapp zwei Jahre älteren Bruder) immer sehr viele „Männerdinge“ gemacht: rumbalgen, im Garten zelten, Fußball spielen, Handwerken, … und so verbindet die drei Männer auch heute noch eine sehr innige Beziehung.
Pauls Geschichte
Paul ist bereits während der Schwangerschaft auffällig, da er im Bauch seiner Mutter offenbar schon seiner Lieblingsbeschäftigung nachgeht: Sport.
In seinen ersten drei Lebensmonaten schreit der Junge dann nahezu durchgehend. Sämtliche „sanfte“ Versuche, hier für das Kind als auch die Eltern Erleichterung zu bringen, (Homöopathie, Bachblüten, Craniosakraltherapie, …) scheitern.
Dann endlich ist die Schreiphase vorbei und Paul entwickelt sich zu einem aufgeweckten neugierigen Jungen, der begierig die Welt erforscht.
Obwohl der kleine Wildfang deutlich temperamentvoller als sein ebenfalls recht lebhafter älterer Bruder ist, und auch einen stärkeren Willen und deutlich schlechteres Regelverhalten an den Tag legt, kann er durch die liebevolle aber Grenzen einfordernde Begleitung seiner Eltern ein normales Kleinkindalter durchleben.
Lediglich die Trennungsängste von seiner Mutter zu Beginn der Kindergartenzeit sind auffallend stark, weshalb Paul nach mehreren Versuchen erst ein Jahr später als geplant mit der Kita beginnt.
Auch die Grundschulzeit verläuft mehr oder weniger unauffällig, außer dass Paul völlig unorganisiert ist und auf Schulisches (Hausaufgaben, Unterschriften, die Bücher mitnehmen etc.) bei Weitem häufiger als das Durchschnittskind vergisst. Doch die Grundschullehrerin hat extrem viel pädagogisches Feingefühl und trägt den Jungen durch die vier Jahre.
Nach dem Wechsel von der Grundschule ins Gymnasium kommt es bei Paul aber nach und nach zu Veränderungen, die die Eltern allerdings erst gegen Ende des ersten Gymnasialjahres als so belastend für das Kind wahrnehmen, dass sie beim Kinder- und Jugendpsychiater vorstellig werden (Sinken des Selbstwerts sowie des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten, immer stärker werdende Abneigung gegen Schulisches, mittlere Leistungen trotz großen Lernaufwandes, …)
Der Diagnoseprozess dauert – nicht zuletzt auch aufgrund der langen Wartelisten – etwas mehr als sechs Monate, sodass Paul bei Diagnosestellung knapp zwölf Jahre alt ist.
Da Paul „nur“ mittelgradige ADHS hat und – abgesehen von Nägelkauen sowie Ängsten vor dem Keller und vor Dunkelheit – noch keine komorbiden Störungen entwickelt hat, entscheiden sich die Eltern zunächst für das Marburger Konzentrationstraining und ein Elterntraining (Ergotherapie war bereits vom 3.- 5. Lebensjahr aufgrund einer mangelnden Körperwahrnehmung durchgeführt worden), auf Medikamente wollen Sie vorerst verzichten.
Da Paul sich aufgrund der Therapien sowie der guten elterlichen Begleitung und Zusammenarbeit mit dem Kinder- und Jugendtherapeuten gut entwickelte, blieb es bei der Entscheidung, den Weg ohne Medikamente zu gehen.
Allerdings wurde die Entscheidung aufgrund von extremem oppositionellen Verhalten in der Pubertät von den Eltern immer wieder hinterfragt. Zu dem Zeitpunkt war der Junge aber nicht mehr bereit, über eine Medikamentengabe nachzudenken.
Heute ist Paul knapp 21 Jahre alt, hat die Ausbildung zum Gesundheitscoach abgeschlossen ist und ist in seinem Beruf überaus erfolgreich.
Allerdings haben seine Eltern mir verraten, dass sie diesen Weg möglicherweise kein zweites Mal so gehen würden. Pauls Mutter:
„Einerseits ist die Begleitung von unserem Jüngeren eine extreme steinige Gradwanderung gewesen, die auch anders ausgehen hätte können. Andererseits können wir von ‚erfolgreicher Begleitung im Sinne von Beziehung und Erziehung‘ erst dann sprechen, wenn ein Kind 30 oder 35 Jahre alt ist, also wirklich gefestigt mit beiden Beinen im Leben steht.
Auch sind wir nicht sicher, ob das Leben für unseren Sohn mit Medikamenten nicht vielleicht doch einfacher gewesen wäre, da er einen extrem niedrigen Selbstwert in Bezug auf seinen Intellekt hat. Dabei hat er sich und dem Umfeld schon zig Male bewiesen, welch messerscharfen Verstand er hat und dass er heute auch überaus konzentriert lernen kann – seine Abschlussprüfung hat er immerhin mit ‚Ausgezeichnet‘ bestanden.
Trotzdem hat er immer wieder Zweifel, wenn es um Konzentration und Wissensaneignung geht und denkt, er ist schlechter als andere.
Andererseits sind unserem Sohn mögliche Nebenwirkungen der Medikamente erspart geblieben.
Was schlussendlich die richtige Entscheidung gewesen wäre, werden wir wohl nie erfahren.“
Zwei Geschichten, zwei völlig unterschiedliche Wege. Mir zeigen diese beiden Fälle vor allem Folgendes:
Und nächste Woche berichte ich euch dann von einem meiner außergewöhnlichsten Fälle in 15 Jahren: einem Kind, das in der Schule nicht mehr zu bändigen ist, sodass die Rettung alarmiert werden muss.
Wie immer würde ich mich über eure Kommentare aber auch über euere eigenen Geschichten freuen!
Eure Anna
Liebe Anna, vielen Dank für die Beispiele. Wir haben auch den Weg ohne Medikamente gewählt, sind aber immer wieder unsicher. Allerdings steigt interessanterweise die Kooperationsbereitschaft unserer Tochter trotz Vorpubertät seit 1 Jahr. Wir denken, dass dazu die Entspannung im schulischen Bereich einen großen Teil beiträgt. Verständnisvolle, konsequente Lehrer machen soviel aus… und Konflikte werden lösungsorientiert, ohne Schuldzuweisung, gelöst.
Wie schön zu hören, dass deine Tocher verständnisvolle Lehrer hat, das tut soooo gut, wenn man ein Kind mit ADHS hat. Und wenn dann zu Hause auch noch alles passt, dann kann es natürlich auch gut ohne Medikamente gehen. Ich freu mich für euch, Brigitte!